Versorgungsepidemiologie psychischer Störungen
Warum sinken die Prävalenzen trotz vermehrter Versorgungsangebote nicht ab?
In Deutschland haben der deutliche Ausbau und die häufigere Nutzung von Versorgungsangeboten in den letzten Dekaden nicht zu sinkenden Prävalenzen psychischer Störungen geführt.
Zur Deutung dieses Phänomens werden drei Erklärungsansätze diskutiert: 1) Prävention und Versorgung sind mangelhaft und ineffektiv, 2) eine durch zunehmende gesellschaftliche Risiken wachsende Morbidität wirkt Versorgungserfolgen entgegen oder 3) ein psychologischer Kulturwandel bedingt sowohl die häufigere Wahrnehmung als auch Behandlung psychischer Symptome und Störungen. Zur Bewertung dieser theoretischen Erklärungsmodelle werden Ergebnisse aus Bevölkerungssurveys und Versorgungsforschung in Deutschland sowie die international geführte Debatte präsentiert und diskutiert.
Für alle drei Erklärungsmodelle lassen sich Belege finden: 1) Probleme bei der Implementierung von Präventionsmaßnahmen, beim Zugang zu Behandlungsangeboten und bei deren Qualität sind dokumentiert, 2) Einflüsse der vielgestaltigen Entwicklung von gesellschaftlichen und kulturellen Risikofaktoren auf Häufigkeit und Folgenschwere psychischer Störungen können nicht ausgeschlossen werden und 3) die auch hierzulande steigende Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung hinsichtlich psychischer Störungen legt nahe, dass (Lebens‑)Probleme heute häufiger psychologisch interpretiert und behandelt werden.
Zur Bewertung von Veränderungen in der Versorgungslandschaft und ihren Auswirkungen sollten neben Prävalenzen psychischer Störungen auch Inzidenzen (und deren potenzielle Verringerung durch Präventionsmaßnahmen) sowie Indikatoren des Behandlungsbedarfes (wie z. B. Funktionseinschränkungen) und der Mortalität (wie z. B. Suizide und verkürzte Lebenserwartung) berücksichtigt werden.